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 Buchvorstellung: Grenzsoldat
Grenzsoldat Grenzsoldat
von Richard Hebstreit
176 Seiten 
broschiert
1. Auflage 2007
Verlag Ronald Hande
ISBN 3939992143
   
Essen Fassen!   
  
Wir Soldaten der 4. Kompanie des Grenzregiment 35 hatten die Meinung, dass es uns bezogen auf die Verpflegung ein wenig besser ging, als in vielen anderen Einheiten der NVA. Man hatte den Eindruck, daß man uns bei Stimmung halten wollte und hat alle Organisationspotentiale genutzt, daß es uns einigermaßen gut ging. Was damals so eine DDR-Konsumkaufhalle im Angebot hatte, das hatten wir auch zum Frühstück und zum Abendessen. Niemals in meinem Leben habe ich so viele Äpfel gegessen wie bei der NVA. Neben der Essensausgabe standen oftmals Kisten oder Stiegen mit Äpfeln und man konnte immer ein zwei Äpfel mitnehmen und manchmal auch soviel man wollte. Südfrüchte waren ebenso knapp wie im zivilem Bereich und so sahen wir Apfelsinen, Mandarinen und Bananen (die einzigen Südfrüchte, welche wir kannten) höchstens einmal im Monat. Eine Ausnahme hier waren auch die sogenannten "Durchhaltebeutel", welcher jeder Grenzsoldat einmal in der Woche erhielt. Ein paar kleine Stückchen Schokolade, Kekse, Trockenobst kleinere Wurst- oder Fleischbüchsen und hart am Verfallsdatum grenzende Einsatzverpflegung (Suppenbrühwürfel, Suppenkonzentrate, Milchpulver, ein Gemisch aus Bohnenkaffee und Malzkaffe, Malz-und Fruchtbonbons, Tee und Trockenspiritustabletten).
Ein einziges mal habe ich es erlebt, daß sich im "Durchhaltebeutel" zwei Schachteln Zigaretten befanden. Der Begriff "Durchhaltebeutel" wurde sicher dadurch geprägt, daß es diese Sonderzuteilung nur bei den Grenztruppen gab und wir spaßhaft bissig kommentierten, diese Gabe ist dazu da, um uns auf dieser unserer Seite der Mauer zu halten. Besonders Begehrenswert waren kleine Schmalzfleischbüchsen, von denen wir dachten, daß die aus Westdeutschland stammtem, weil mal auf einer Serie ein Bodenaufkleber befestigt war mit der Aufschrift "Made in Germany", Osnabrück. Aber dies war sicher nur eine DDR-Exportsendung, welche sich zu uns verirrt hatte. Der Inhalt der Durchhaltebeutel wurde kreuz und quer getauscht, weil sich bei den einzelnen Soldaten besondere Vorlieben für den Inhalt herausbildeten. Da die Staukapazitäten im Armeespind äußerst knapp bemessen waren, wurde das Zeug kiloweise mit in den Urlaub mit nach Hause genommen. Ich habe erlebt, daß wir auf der Heimreise im Zug stolz unsere Schätze als Wegzehrung auspackten und den armen Schweinen von Motschützensoldaten (Motorisierte Schützen/Infanterie) aus Eggesin zur Abfütterung verabreichten. Die anderen Soldaten dachten, wir lebten in einer Schlaraffenlandarmee. Dieses Verhalten hat uns aber insgesamt geschadet, weil viele Soldaten anderer Waffengattungen meinten, uns steckt man es vorne und hinten hinein, was ja auch im gewissen Maße stimmte. Wenn die anderen mal in der Überzahl waren, wurden wir offen als "Grenzerschweine" oder "Mauerknechte" tituliert.

Im GR 35 waren die Küchenbullen angesehene Soldaten und Unteroffiziere und standen bei uns hoch im Kurs der Beliebtheitsskala. Zum einen war es wohl eine Marotte der Regimentsleitung hier ein Versorgungssystem zu etablieren, welches nicht nur klappte wie am Schnürchen, sondern auch qualitätsvoll war im Rahmen der Möglichkeiten. Oder es war Zufall, daß in der Küche eine gute Truppe aktiv war. Da ich öfters mal in die Kaserne in Treptow musste, konnte ich gut vergleichen. Dort war es laut, dreckig und das Mittagessen war fast ungenießbar. Aber dort mußten jeden Tag 5000 Soldaten verpflegt werden, bei uns waren es 2000. Wenn auch unsere Kaserne einen insgesamt vergammelten Eindruck machte - es waren alte abgewohnte Wehrmachtsbaracken zu dieser Zeit, so war der Küchentrakt was extrafeines. Durch meine Wandzeitung- und Fotoproduktion hatte ich oft im Speisesaal zu tun und wunderte mich überhaupt nicht, wenn mich ein Küchenbulle bat, mal die Soße für die Rouladen zu kosten. Das hatten die nur als Show gemacht, um ihrem Ruhm noch was draufzusetzen. In diesem Zusammenhang war es dann Brauch, daß wenn ein Soldat des Küchenkommandos in einer Kneipe in Lichtenberg auftauchte, wo gerade Soldaten des GR 35 Bierabende veranstalteten, gab es für die Küchensoldaten Freibier. Berühmt war einmal ein Eisbeinessen welches nur dadurch getrübt war, daß es kein Pilsner dazu gab, sondern nur Brauselimonade oder Tee. Ältere Soldaten erzählten, daß die Verpflegung vor November 1966 unter aller Sau war und erst mit Versetzung eines Küchenkommandos aus dem Grenzausbildungsregiment 39 so gut wurde. Was nach unserer Zeit war entzieht sich meiner Erkenntnis.

Das Essen war insgesamt auch ein anderes Thema Nr.1, da es fast zum Spezialhobby vieler Soldaten wurde, auch im Grenzdienst weiter zu schlemmen. Normalerweise sollte man ja als Soldat, wenn man an der Mauer aufgezogen war auf dem Postenturm, in Bunkerverstecken, oder auf Streife seine Pflicht erfüllen, gemäß Vergatterung. Wir pfiffen auf die Pflichterfüllung und spähten nur in dem Zusammenhang, daß man uns beim brutzeln nicht erwischte. Es wurden ausgeklügelte Methoden entwickelt, sich das Essen abwechslungsreich, nahrhaft und köstlich zu gestalten. Unsere belegten Stullen zu essen und dazu lauwarmen Tee aus der Feldflasche zu schlürfen war unter unserer Würde. Wir waren hier eine seltsam verfressene Truppe. Fast alle hatten wir kleine Taschen-Tauchsieder dabei, damit der Tee oder Kaffee frisch gebrüht werden konnte. Einige hatten einen sogenannten Dunkelstrahler mit, das war ein dunkelgrünes glühbirnenförmiges Keramikteil in dem elektrische Glühwendel so um die 1000 Watt verheizten, wenn man die Dinger an die 220 Volt Leitung brachte.

Um eine Grenze zur Nacht taghell zu beleuchten, braucht man viele Leitungen und an diese Leitungen haben wir uns ungefragt drangeklemmt. Die notwendigen Drähte, Stecker, Schraubenzieher und natürlich auch Sicherungen hatten wir ständig bei uns.Die Fresserei hatte zweierlei Zweck. Zum einen tötete es die Zeit, 8 Stunden Wache zu schieben. Zum anderen hatte es unwahrscheinlich Spaß gemacht und weil das verboten war, wurde ein weiterer Reiz erzeugt, die einfachste Bulette, welche mit einem Dunkelstahler auf ordentliche Bratpfannentemperatur hochgepusht wurde, zur Delikatesse mutieren konnte. Wir kochten Eier, brutzelten Rühreier mit Speck und die Krönung waren panierte Schnitzel mit Bratkartoffeln. Da es nach so einer Aktion auf dem Postenturm ja nicht gerade unangenehm gerochen hatte wurden Methoden entwickelt, den ansonsten feinen Geruch durch ein bissel Gestank zu nivellieren oder zu kaschieren. Praktisch war hier ein paar Körner der Leuchtmunition zu verbrennen, was dann danach roch, als hätte man in der Schicht vor uns Leuchtmunition bzw, Signalmunition verballert. Der Geruch nach gebratener Bockwurst war dann weg. Ab und zu wurde auch mal ein Postenpaar beim Bruzzeln erwischt-Die Strafe hierzu war aber relativ gnädig. Regelmäßig erwischt wurde ich im U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, da da die Streife schneller da war, als wie ich die Kochutensilien verstecken konnte. Zum Glück war es immer eine Offizierstreife, der eigenen Einheit, welche die Augen zugedrückt hat und mit futterte.

In der Freizeit wurde ebenfalls gebrutzelt. Da wir im Zug einige Angelprofis hatten, welche ihre Angeln in den Rummelsburger See hinter der Kaserne tunkten, gab es auch ab und zu hinter unserer Baracke auf einen Grill Bratfisch. Die fettesten Fische wurden direkt hinter dem Rummelsburger Knast geangelt, da außer uns Soldaten dort niemand hingekommen ist und das Angelrevier ansonsten geschont wurde. Besonders in den Wintermonaten nutze man auch die Platten unserer Kachelöfen in den Stuben um am Abend Menues zusammen zu braten. Alles in allem hatte aber die ganze Esserei, welche außerhalb der üblichen Armeeverpflegungsstruktur organisiert wurde, ein wesentliches psychisches Element. Es wurde versucht, ganz einfach Lebenszeit sinnvoll zu nutzen. Die Vorfreude auf ein Essen und das Essen in der Gruppe, waren selbstverständliche Rituale um sich das Leben in dieser Armee so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Neben Reden, Lesen, Kino, Fernsehen, Musik und Sport war es mit eine Möglichkeit mit der Zeit sinnvoll umzugehen und ganz wichtig, die Armeezeit schneller vergehen zu lassen. In den Kneipen und Restaurants in Berlin als Soldat essen zu gehen war ein Kapitel für sich. Wir wussten, daß uns besonders in den volkseigenen HO- und Konsumgaststätten die Kellner und Köche in das Essen spuckten. Also sind wir lieber in Selbstbedienungsgaststätten Essen gegangen, um zu sehen, was auf dem Teller landete. Lediglich kleinere private Kneipen, welche sich in der Nähe der Kaserne auf die Soldatenkundschaft spezialisiert hatten, war anzumerken, daß man als Gast gerne gesehen war. Im "Heinzelmännchen" in Berlin Lichtenberg gab es heute noch große dicke Rostbrätel, (Kammstücke) und deftige Hausmannskost. Das war aber auf Grund des geringen Soldes selten. Unser Standardmenue waren ansonsten Buletten oder Bockwürste.

Gut war der Soldat bedient, welcher sich in Berlin ein Bratkartoffelverhältnis besorgte, wo man sich auch im Ausgang ordentlich weiter durchfuttern konnte. Das war nicht einfach, weil wir Grenzsoldaten ja in Berlin nicht sehr angesehen waren. Aber wenn man sich einigermaßen Mühe gab, klappte das schon.Oft waren die Freundinnen um einige Jahre älter, hatten einen eigenen Hausstand und somit einen eigenen Küchenherd. Da man ja durch die Sonderverpflegung ganz schöne Massen an Vorräten anhäufen konnte, war man auch in keiner Parasitensituation. Man hatte schon was mitzubringen und brauchte kein schlechtes Gewissen zu bekommen. Im Übrigen ging es uns hier nicht um das Essen - aber das ist ein anderes Kapitel.

Woher habe ich aber nun den Titel „Essen fassen!“ ? Ganz einfach. Wenn die Kompanie im Übungsgelände , oft in Streganz zur Ausbildung weilte und es gab was zu Essen, dann brüllte unser Zugführer „Antreten zum „Essen fassen“! Das wurde in der Kompaniebaracke täglich dreimal am Tag so beibehalten. Nur am Sonntag, wenn es mal Kaffee und Kuchen gab, tönte lieblich die Stimme des diensthabenden Unteroffiziers „KONDITOR-KONDITOR!“ Das wurde zum Ende meiner Dienstzeit abgeschafft. Man klatschte uns 2 Stückchen gefüllten Streuselkuchen neben den Mitagsteller mit der Aufforderung „Los weiter, halt den Laden hier nicht auf, Schlagsahne gibt es nicht in dieser Armee!“ Zum besonderen Dank hat mancher Soldat dann den Staubzucker des Kuchens den Küchenbullen in´s Gesicht geblasen. Der hatte dann am Abend in der Stube seinen Kameraden erzählt „ Mir haben sie heute fünf mal einen geblasen!“

 
Text mit freundlicher Genehmigung
von Richard Hebstreit
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