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 Erinnerungen an die Berliner Mauer
Mit Blick auf die Mauer
 
von Ger Tillekens / Die Niederlande
 
Bernauer Strasse 1998 Das Foto links wurde am 21. Juli 1998 von Heiko Burkhardt aufgenommen und dann auf dieser Webseite veröffentlicht. Als ich das Foto mit der Kapelle rechts im Foto, deutlich sichtbar an der Westseite hinter dem restlichen Teil der Mauer, zum ersten Mal sah, erkannte ich sofort den Ort und das Gebäude. In der Tat, dies muß das Lazarus Kranken- und Diakonissenhaus an der Bernauerstrasse 115-118 sein. Das Krankenhaus, in dem ich vor fünfundzwanzig Jahren während des Sommers von 1973 für einige Wochen mit meinem Bruder Jos arbeitete. Wir hatten uns mit einer Gruppe holländischer Studenten zusammengetan, die versuchten, die Pflege und die Sorge der Patienten mit einem Besuch in die Stadt Berlin zu kombinieren.
  
Bernauer Strasse 1973, Lazarus-Krankenhaus Während der Zeit unseres Aufenthaltes hatten wir leider nicht die Möglichkeit, das Gebäude von der Ostseite zu besuchen beziehungsweise zu besichtigen. Heutzutage ist es möglich, direkt bis zur Westseite durchzulaufen. Man kann sehen, daß der Komplex mit einem Haus für Geriatrie erweitert und mit einem modernen geräumigen Eingang an der linken Seite (Ecke Gartenstraße um präzise zu sein) versehen wurde. Es ist dies das zweite Mal, nach der Zerstörung der ursprünglichen Gebäude während des Zweiten Weltkrieges und dem Wiederaufbau danach, daß das Krankenhaus erneuert wurde. Zur Zeit unseres Aufenthalts, Mitte der siebziger Jahre, strahlte das Krankenhaus, vom Garten her gesehen, eine ebensolche Ruhe und Harmonie wie heutzutage aus. Aber, man brauchte nur einige Schritte aus dem vorderen Garten heraus zu treten ... da war sie, recht vor unseren Augen die Mauer.
  
Berliner Mauer Todesstreifen, Bernauer Strasse 1973 Mein Bruder und ich teilten uns einen Raum im obersten Stock des Gebäudes. Auf dem Foto von Burkhardt ist unser Zimmerfenster "mit Blick auf die Mauer" deutlich zu erkennen. Die Mauer, gefüllt mit Betonblöcken und extra abgesichert durch Stacheldrahtrollen und Todesstreifen, sandigen Laufpfaden zwischen den Mauerteilen, war daher keine gewöhnliche Steinwand, sondern eine sich real aufwerfende Barrikade, die den östlichen Teil der Stadt vom westlichen Teil trennte. In der Nacht brannten die Scheinwerfer. In ihrem gleißenden Licht beobachteten wir die Vopos bei ihrem Rundgang. Anfänglich hatten wir das Gefühl, daß wir uns in einer belagerten Stadt befanden. Wir litten am bekannten Berlin Syndrom. Mit der Zeit gewöhnten wir uns an die Situation. Es erschien uns wie ein surrealistisches Spiel, aufgeführt in einem großen Stadion und bestimmt für ein sehr kleines Publikum, in dem wir irrtümlicherweise hineingekommen waren - bis wir eines nachts plötzlich geweckt wurden durch heftiges Maschinengewehrfeuer und alles schlagartig sehr realistisch wurde.
  
Bernauer Strasse 1973 Am nächsten Morgen erfuhren wir, daß ein junger Mann versucht hatte, über die Mauer zu klettern und zu flüchten. Man hatte ihn bei der Kreuzung der Sandstreifen erwischt und angeschossen. Wie sich herausstellte, hatte man den Angeschossenen hilflos hinterlassen, derweil er zu Tode blutete. Dieser Vorfall verursachte einen Aufstand unter den Leuten, die von überall eiligst an den Platz des Geschehens gekommen waren. Dies machte einen tiefen Eindruck auf mich. Es kommt mir so vor, als wäre es gestern geschehen. Klar und deutlich ist das Bild des Berliners, der auf einem der hölzernen Bewachungsaufsätze nahe der Mauer breitarmig schrie: "Schieß denn", in meinem Gedächtnis eingraviert. Trotz der Tatsache, daß es Stunden dauerte, um die Mauer bei einem der Kontrollpunkte zu passieren, kehrte in den darauffolgenden Tagen das Leben langsam zum Normalalltag zurück. Übrigens zeigt das Foto einige von unserer Gruppe bei einem dieser Kontrollpunkte, direkt nach der Heimkehr von einem Besuch in Ostberlin. Rechts auf dem Foto ist mein Bruder Jos und links bin ich abgebildet.
  
>Berliner Mauer, Bernauer Strasse 1973 Selbstverständlich unternahmen wir viele andere Aktivitäten, die dann unsere Aufmerksamkeit von der Mauer ablenkten. Es gab viel zu sehen, zu tun und zu erleben im Berlin der siebziger Jahre. Aber, die Mauer öffnete mir die Augen über die Auswirkung von Grenzen - sowohl für tatsächliche als auch für symbolische. Mit seiner permanenten physischen Anwesenheit war die Mauer fast immer in unseren Gedanken. Selbst dann, wenn wir zur Entspannung einer der Kneipen in der direkten Umgebung des Krankenhauses besuchten. Dort, während der Konversationen mit den Berlinern, kroch die Wand unvermeidlich in jedes Gespräch, da man immer wieder an den Anlaß des Mauerbaus dachte. Trotz der pessimistischen Einschätzung der Lage und der Geschehen, gab es immer auch irgendeinen Hauch von Optimismus, eine Art von Hoffnung vermischt mit Zorn, daß eines Tages die Mauer fallen würde - obwohl wenige Leute wirklich daran glaubten, daß sie dies noch zu ihren Lebzeiten mitmachen würden.
  
14. November 2002
  
Ger Tillekens ist Mitherausgeber von soundscapes.info, ein Online-Journal über die Geschichte und die Bedeutung von Medienkultur.
  
Übersetzung aus dem Englischen: Hans Rosenstein
  

  
Text und Fotos 2-5 (c) Ger Tillekens
Foto 1 (c) Heiko Burkhardt
 

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